Rechtsanalysen in Deutschland und Frankreich als Wechselwirkung im europäischen und globalen Kontext

CERC-Projekt von Werner Gephart

Gerade weil die Rechtsentwicklung der Moderne mit dem Prozess der Herausbildung von Staat und Nation verbunden ist, lassen sich kulturelle Eigenheiten besonders deutlich im Recht ablesen. Freilich ist diese Erkenntnisquelle nicht mit derselben Selbstverständlichkeit verfügbar, wie dies dem Kulturforscher für die jeweiligen Literaturen und die Künste erscheint, um sie als Ausdruck unterschiedlicher Mentalitäten oder gar Codierungen einer Kultur zu verstehen. Denn
selbst dasjenige Recht, das sich in der jeweiligen Nationalsprache artikuliert, weist so viele Zugangssperren auf, dass wir des Fachjuristen bedürfen, um einen Zugang zur jeweiligen Rechtskultur zu gewinnen.

Insofern stünde eine Grundlagenforschung an in einem bisher nur scheinbar ausgeforschten Terrain, das im Wechselspiel der intranationalen Wissenschaftskulturen von Jurisprudenz und Kulturwissenschaften mit jeweils grenzüberschreitenden Wechselwirkungen völlig neue Erkenntnismöglichkeiten für das Verständnis des mitunter schwergängigen „moteur“ oder des immer wieder scheidungsgeneigten „couple“ franco-allemand liefern würde. Bei einer solchen Forschungsausrichtung hätte man keineswegs bei Null zu beginnen, und nicht zuletzt liefert das im Bonner Käte Hamburger Kolleg entwickelte „Law as Culture“-Paradigma Jahre der Forschungserfahrung.

Als eine der dringenden Fragestellungen ließen sich anhand von kontrastiven Begriffspaaren - z.B. „Contrat“ gegen „Willenserklärung“ für das Zivilrecht, „Verwaltungsakt“ gegen staatliches Handeln für das öffentliche Recht und strafrechtlich relevantes „Handeln“ gegen „crime“ – solche Grundstrukturen der juridischen Kategorisierung der Welt erfassen, die erstaunliche Rückwirkungen auf die kulturwissenschaftliche Begriffsbildung ausüben. Aber nicht nur Begriffsbildung und die durch sie geprägten Kulturinhalte unterscheiden sich markant, sondern gerade in der symbolischen, rituellen und narrativen Dimension der Rechtspraxen treten auffällige Unterschiede zu Tage:

In der „société de cour“ hat das Zeremoniell der theatralischen Inszenierung nach wie vor einen anderen Stellenwert als in einer ritualasketischen Kultur. Welche Konsequenzen hat dies für die Wahrnehmung der „force du droit“ (Pierre Bourdieu) und die Funktionsweisen der jeweiligen „champs juridiques“? Und schließlich ist die narrative Dimension als Vergleichsebene aufschlussreich, denn wie kommt es, dass in der deutschsprachigen Literaturgeschichte (von Goethe bis Grabbe, Keller, Storm und Kafka bis Peter Handke 9 nur wenige Dichter zu finden sind, die nicht zugleich auch Juristen waren? – Für den französischen Roman des 19. Jahrhunderts sind solche Herkünfte allerdings peripher, obwohl das Recht – wie im „Étranger“ des Albert Camus – sehr präsent ist. Insofern wären nicht nur Juristen, Ethnologen und Soziologen eingeladen, sich auf neue Abenteuer deutsch-französischer Begegnungen einzulassen.

Literatur

  • Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Émile Durkheims, Opladen 1990; Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1993.
  • Werner Gephart, Recht als Kultur. Kultursoziologische Studien zum Recht (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte. 209), Frankfurt a.M., Klostermann, 2006.
  • Werner Gephart/Jan Christoph Suntrup (Hrsg.), Rechtsanalyse als Kulturforschung II , Frankfurt a. M., Klostermann, 2015.
  • Jean-Louis Halpérin/Frédéric Audren, La Culture juridique française, entre mythes et réalités : XIXe XX e siècles, Paris, CNRS ed, 2013.
  • Jean-Louis Halpérin, Five legal Revolutions Since the 17th Century: An Analysis of a Global Legal History, Springer, 2014.
  • Jean-Louis Halpérin, Histoire de l'état des juristes : Allemagne, XIXe -XXe siècles, Paris, Classiques Garnier, 2015.
  • Olivier Jouanjan, Une histoire de la pensée juridique en Allemagne (1800-1918), Paris, PUF, 2005.
  • Udren, La Culture juridique française, entre mythes et réalités : XIXe-XXe siècles, Paris, CNRS, 2013.
  • Olivier Jouanjan, Justifier l’injustifiable. L’ordre du discours juridique nazi, Paris, PUF, 2016.
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