Historisches Lernen in Deutschland und Frankreich: Positionen – Praktiken – Synergien

CERC-Projekt von Peter Geiss

Die Geschichtswissenschaft ist heute zwischen Deutschland und Frankreich grenzüberschreitend hervorragend vernetzt. Interpretatorische wie auch methodische Traditionen und Forschungstrends im jeweils anderen Land werden auf beiden Seiten intensiv rezipiert und haben zu vielfältigen Bereicherungen der Fachkulturen geführt, die sich auf wichtigen Forschungsfeldern schon lange nicht mehr trennscharf als „national“ charakterisieren lassen.

Wie in Studien bereits hervorgehoben stehen die produktiven Verflechtungen im Bereich der Forschung allerdings in einem deutlichen Kontrast zu jener Situation, die auf dem Feld der Geschichtsvermittlung anzutreffen ist, sei es auf schulischer oder universitärer Ebene. Hier begegnen sich Deutsche und Franzosen bisweilen mit Unkenntnis und Unverständnis bis hart an die Grenze zur Intoleranz. Besonders deutlich ist dies im Bereich des schulischen Geschichtsunterrichts zu beobachten. Deutsche Lehrkräfte und Didaktiker schütteln mitunter den Kopf darüber, wie wenig die persönliche historische Urteilsbildung von Schülerinnen und Schülern in Frankreich gilt und wie stark demgegenüber der Erwerb von Faktenwissen betont wird. Dabei übersehen sie z.B. die methodischen Stärken der französischen Unterrichtstradition bei der Entwicklung von Analyse- und Argumentationskompetenzen, wie sie klassisch im berühmten Discours de la méthode (1637) von René Descartes vorgedacht sind.

Ihre französischen Kolleginnen und Kollegen bekommen es hingegen mit der Angst zu tun, wenn sie sehen, welch voraussetzungsreiche Urteile man im Nachbarland von Jugendlichen verlangt. Kann es denn fachlich und didaktisch seriös sein, Schülerinnen und Schüler einmal eben zentrale Forschungspositionen zur „Kriegsschuldfrage“ von 1914 „beurteilen“ zu lassen, auf der Basis von drei kurzen Auszügen aus der Forschungsliteratur und denkbar dünnem Faktenwissen? Noch größer werden die Bedenken, wenn explizit Werturteile zu historischen Phänomenen eingefordert werden, die – so die Sorge in Frankreich – leicht in aktualistische Subjektivität abgleiten und analytische Zugänge zur Vergangenheit eher verstopfen als eröffnen.

Unterschiedliche Vermittlungskulturen beschränken sich nicht auf die schulische Bildung, sondern setzen ihre Wirksamkeit im Universitätsstudium fort, wo mit der spezifisch deutschen „Hausarbeit“ (eher auf Tiefe und Spezialisierung zielend) und der französischen dissertation wie auch dem commentaire de document (beides eher auf Verknüpfungskompetenz und Synthese hin ausgerichtet) jeweils sehr eigene Akzente gesetzt werden. Dies ist auch für die Forschung hoch bedeutsam, da von jahrelang erlebten und antrainierten Lehr- und Lernkulturen und auch von den ihnen zugeordneten Prüfungsformaten eine epistemologische Prägekraft ausgeht, wie dies der französische Geschichtsdidaktiker Sylvain Doussot zu Recht hervorgehoben hat.

Deutsche und französische Vermittlungstraditionen stehen nur scheinbar in einem Gegensatz zueinander. Ein genauerer Blick zeigt, dass sie sich gegenseitig im Sinne einer Synthese überaus fruchtbar ergänzen könnten. So dürfte etwa die „deutsche“ Urteilsorientierung, von der „französischen“ Fokussierung des Wissens, auch gerade in seiner fachterminologischen Dimension, und der Wertschätzung logischer Stringenz erheblich profitieren, wenn auf deutscher Seite bestehende Unkenntnis und Abwehrhaltung überwunden werden. Denn was ist ein fundiertes historisches Urteil
anderes, als eine Position, die auf der Basis hinreichender Sachkenntnis gefunden und argumentativ schlüssig begründet wird? Umgekehrt wäre die für das deutsche System so charakteristische Einbeziehung der Schülerin/des Schülers als deutender Persönlichkeit in den Lernprozess auf französischer Seite sicherlich nicht ohne Interesse, zumal in Frankreich seit einigen Jahren eine Diskussion über die Stärkung des „esprit critique“ in der historischen Bildung geführt wird.

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