„Französischer ‚Esprit‘ zwischen italienischem ‚Spirito‘ und deutschem ‚Geist‘“

 CERC-Projekt von Paul Geyer

In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in Deutschland und Frankreich intensiv über den Französischen „Esprit“ und den deutschen „Geist“, über die „Civilisation française“ und den deutschen Kulturbegriff diskutiert. Nicht zuletzt der Namengeber des CERC, Ernst Robert Curtius, leistete mit seinem Buch Französischer Geist im neuen Europa aus dem Jahre 1925 einen wichtigen Beitrag dazu. Die Diskussion wurde zwar explizit oder implizit immer weitergeführt, jeder deutsche Romanist und jede französische Germanistin ist ständig mit dieser interkulturellen Problematik konfrontiert, aber vielleicht ist nach hundert Jahren, in denen sich der französische „Esprit“ und der deutsche „Geist“ ja auch gewandelt haben, der Zeitpunkt für eine neue Zwischenbilanz gekommen.

An der Diskussion fällt auf, dass der Begriff des „Esprit“ wie der des „Geistes“ sehr unscharf verwendet werden. Zumeist geht es hauptsächlich um literarische oder philosophische Bei spiele, die in ihrer Relevanz angeblich selbsterklärend sind. Ich möchte hier behaupten, dass Frankreich keinen Alleinvertretungsanspruch auf den „Esprit“ erheben kann. Der sechste Erzähltag in Boccaccios Dekameron, ist geistreichen, witzigen, spitzen, reaktionsschnellen Bemerkungen, Erwiderungen und Wortspielen ge widmet, wobei oft hinzukommt, dass die Adressaten, etwas begriffs stutzig, die Bemerkung nicht richtig verstehen. In der zehnten Novelle dieses Erzähltages erzählt der betrügerische Wanderprediger Frate Cipolla dem einfachen Volk von wundertätigen Reliquien, die er gesehen und von denen er ihnen eine mitgebracht habe. Er erzählt von einem sehr gut erhaltenen Finger des Heiligen Geistes, von einem der Zähne des Heiligen Kreuzes und von einer Rippe des Fleisches, zu dem das Wort ward, „una delle coste del Verbum-caro-fatti-alle-finestre“, wobei er das „Verbum caro factum est“ aus dem Johannes-Evangelium (I, 14) zu „Verbum-Liebster-komm-ans-Fenster“ verballhornt, wobei das Sprachspiel allerdings im Deutschen nicht adäquat zu übersetzen ist.

In Ariosts Orlando furioso, im komischen Epos im Allgemeinen, in der Renaissance-Komö­die finden sich viele entsprechende geistreichen Bemerkungen. Castigliones Begriff der „sprezzatura“ im Cortigiano, der in ganz Europa rezipiert wurde, enthält auch eine Theorie des Geistreichen. Wer war der erste geistreiche Franzose? Rabelais? Villon? Oder schon Rutebeuf? La Rochefoucaulds Maximes stellen den Inbegriff des klassischen französischen „Esprit“ dar, Pascals Begriff des „Esprit de finesse“ in seinen Pensées bringt ihn auf den Begriff. Célimène in Molières Misanthrope ist die erste geistreiche Frau auf dem Theater.

Damals wandert der Begriff des „Esprit“ in das deutsche Wort „Witz“ ein. Der deutsche Be­griff „Witz“ erlebte dann im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts im Zuge der Abkehr von der Bewunderung des französischen Kulturvorbildes eine zum Teil auch polemisch gegen Frank­reich gerichtete Bedeutungsverengung in Richtung einer stereotypen, situationsunab­hän­gi­gen Reproduzierbarkeit, während der französische „Esprit“ damals wie heute gerade das situa­tions­abhängige, originelle, spontane Sprachspiel mit Bedeutungen und kulturellen Tatsachen meint. Im Deutschen ist das noch in Zusammenhängen wie „Sprachwitz“ oder „Mutterwitz“ lebendig geblieben, ansonsten ist es aber eben auch eine kulturelle Tatsache, dass das Deut­sche, seitdem die französische Kultur nicht mehr die europäische Leitkultur ist, kein Pendant für das französische „Esprit“ mehr braucht, weil es wenige Deutsche mit „Esprit“ gibt, ja weil vielen Deutschen seit Lessing und Thomas Mann der französische „Esprit“ als oberflächlich, bemüht witzig und geradezu als Gegenpol zum angeblich deutschen Tiefsinn gilt. Die heutige Jugendsprache knüpft, ohne es zu wissen, an die ältere Bedeutung des geistreichen „Witzes“ an, wenn sie jemanden als „witzigen Typ“ bezeichnet.

Es gibt eben auch Deutsche mit „Esprit“: Hegel entwickelt in seiner Phänomenolo­gie des Geistes den Bewusstseinsstand des modernen, „zerrissenen“ Bewusstseins am Beispiel von Diderots Le Neveu de Rameau; die Reden des Titelhelden bezeichnet Hegel zwei Mal als „geistreich“, womit er seinen Geistbegriff an den französischen „Esprit“ anschließt. Nietzsche stellt in „Warum ich so gute Bücher schreibe“, Kap. 2, „dumm“ mit „deutsch“ und „esprit“ mit „französisch“ gleich; seine Hoch­schät­zung der französischen Moralisten ist bekannt. Und wenn er in Götzen-Dämmerung („Sprüche und Pfeile“, 23) „deutschen Geist“ eine contra­dictio in adjecto nennt, ist es klar, dass er den „Geistbegriff“ mit dem französischen „Esprit“ gleichsetzt. Nun entspricht er damit allerdings nicht dem Mainstream deutschen Denkens. Darüber muss weiter nachgedacht werden.

Literatur

  • Ernst Robert Curtius, Französischer Geist im neuen Europa, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1925.
  • Paul Geyer, "A Critical Theory of Culture"; in: American Vistas and Beyond: A Festschrift for Roland Hagenbüchle, eds. M. Messmer / J. Raab, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2002, 391-412.
  • Themenheft Le Point, novembre-décembre 2008 : « L’Esprit français
  • Themenheft Philosophie Magazine, juin 2009 : « Existe-t-il un Esprit français ? »
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