Europas Immunisierung

CERC-Projekt von Birgit Ulrike Münch

Seit dem Beginn der Neuzeit werden pandemisch auftretende Krankheiten, ihr Ursprung und ihre Bekämpfung zu einem zentralen Thema europäischer Kunst und Literatur.

Ein rekurrierendes Motiv innerhalb dieser Diskurse stellt die Schuldzuweisung dar, die zunächst lange Zeit (proto-)nationalistische Züge trägt, als dass immer ein Ursprungsland und damit verbunden seine vermeintlich destabilisierende Kultur als Verursacher der immunologischen Krise ausgemacht wird.

Die Syphilis (malfrantzoß) als erste „medial aufbereitete“ Pandemie europäischen Ausmaßes stellt einen paradigmatischen Wendepunkt innerhalb des europäischen Umgangs mit kontagiösen Krankheiten dar. Mit ihrem Auftreten ab der Mitte der 1490er Jahre, zeitgleich mit der in der Einführung des Drucks mit beweglichen Lettern begründeten ersten europäischen Medienwandel wurden ihre Symptome, ihre schädlichen Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft sowie Probleme ihrer Ätiologie und Bekämpfung breit verhandelt.

Der Blick auf die Erkrankung wurde zu ihrem Definiens und die Frage nach ihrer Ursache wurde zu einer Frage der radikalen Exklusion: ausgeschlossen werden sollten sowohl die infizierten Träger als auch die vermeintlichen Verursacher, die man, im Gegensatz zur egalisierenden Wahrnehmung pandemischer Krankheiten im Spätmittelalter, nun in einzelnen Gruppen auszumachen meinte, die entweder geschlechtlich (morbus Veneris), national (morbus gallicus, mal de Naples, English disease) oder kolonial (morbus Columbianus) definiert waren.

Ab dieser Zeit gibt es ein „Innen“ des Körpers und ein „Außen“ der Krankheit – und damit auch explizit ein „Innen“ des europäischen Körpers, der von den Krankheitserregern, die von außen an ihn herangetragen werden. Die europäischen Länder werden somit auch in bestimmten Beziehungen innerhalb eines ‚Kampfbundes‘ gegen das Außen mobilisiert.
Das Projekt untersucht aus deutscher und französischer Perspektive diese Bilder, Zuschreibungen und Wechselwirkungen (etwa: national versus europäisch) von Krankheit unter den folgenden Prämissen:

I. Wie wurde das – individuelle, kulturelle und soziale – „Andere“, das „Abjekte“ in der Bildkunst dargestellt?

II. Inwiefern transportieren Visualisierungen in unterschiedlichsten Bildgattungen gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen und erzeugten ein spezifisches Bild von Krankheit und dem Umgang mit dieser seit der sogenannten maladie française oder der (English) sweating disease etc. das, in Anlehnung an Ludwik Fleck, im Grunde unspezifisch und dadurch zugleich universal applizierbar war?

III. Wie positionieren sich die Bildwerke im Diskurs zwischen misogynen („Venuskrankheit“), nationalen („Franzosenkrankheit“) und kolonialen und globalen („Krankheit der Neuen Welt“, Krankheit „made in China“) Stereotypien?

Eigene Schriften zum Thema:

  • 2018: Eine Pathosformel für Mailand. Jacob Jordaens’ „Carlo Borromeo bittet für die Pestkranken“ in der Antwerpener Sint Jacobs-­‐Kerk, in: Reframing Jordaens Pictor doctus -­‐ Techniken -­‐ Werkstattpraxis / pictor doctus -­‐ techniques – workshop practise [in Zusammenarbeit mit Justus Lange, unter Mitarbeit von Joost van der Auwera, Irene Schaudies und Anne Harmsen], Petersberg, S. 55-­‐74.
  • 2017: Praying Against Pox. New reflections on Albrecht Dürer ́s Jabach Altarpiece, in: The Primacy of the Image in Northern European Art, 1400-­‐1700 Essays in Honor of Larry Silver, (Brill's Studies in Intellectual History, Band: 271/22), hrsg. v. Debra Cashion, Henry Luttikhuizen und Ashley West, Leiden, S. 256-­‐268.
  • 2017: Ludwik Flecks Theorie vom Denkkollektiv und die historischen Kulturwissenschaften, in: Zyklos – Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Bd. 3, Wiesbaden (in Zusammenarbeit mit Martin Przybilski), S. 53-­‐70.
  • 2015: Dürers Männerbad, der Jabacher Altar und seine Angst vor den frantzosen: Ein Künstler klagt über die Syphilis, in: The Artist ́s Lament. Turning Crisis and Turmoil into Text and Image between Reformation and 1800 / Die Klage des Künstlers. Verarbeitung von Krise und Umbruch in Text und Bild von der Reformation bis um 1800 [Schriften des Kunsthistorischen Forums Irsee 2], Petersberg. [hrsg. von Birgit Ulrike Münch / Andreas Tacke / Markwart Herzog / Sylvia Heudecker], S. 24–47.
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